Eine Rezension von Klaus Karwat zum Buch Kapital und Ressentiment von Joseph Vogl, (C.H.Beck Verlag München).
„Eine kurze Theorie der Gegenwart“ – so lautet der Untertitel dieses Buches. Es ist also ein Versuch, einige neue Phänomene zu erklären, die in unserer zunehmend digitalisierten Gesellschaft auftreten. Es behandelt die Gegenwart vor allem aus Sicht der Finanz- und der Digitalwirtschaft, die eng miteinander verwoben sind. So schreibt Vogl auf S.48, dass 80% aller IT-Produkte seit den 1980 Jahren vom Finanzsektor erworben wurden. Das ist für ihn ein Indiz für die Wahlverwandtschaft zwischen elektronischen Kommunikationsmedien und Finanzmärkten. Er sieht derzeit eine „eskalierende Privatisierung“ der Geldschöpfung (S.32), die es rechtfertigt, von einem Finanzregime als 4. Gewalt zu sprechen, die sich außerhalb parlamentarischer Kontrolle bewegt. Er verwendet dafür auch den Begriff „Monetative“, der für unserenVerein Monetative e.V. namensgebend war, der ursprünglich aber nicht wie in einer Fußnote behauptet vom Hamburger Soziologen Aron Sahr stammt, sondern von Bernd Senf, einem Sachbuchautor („Der Nebel um das Geld“) und emeritierten Ökonomie-Professor der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin. In diesem Finanzregime soll der Markt als Signalsystem gut informierter Marktteilnehmer zur Bewertung von Finanzprodukten wirken, das behauptet zumindest die Efficient Market Hypothesis (EMH). Dafür brauchen diese Marktteilnehmer superschnelle Informationssysteme, denn wer schneller informiert ist, kann Spekulationsgewinne gegenüber denjenigen erzielen, die diese Informationen etwas später bekommen. Dabei kann es sich um Bruchteile von Sekunden handeln, und dieser Vorsprung rechtfertigt auch die gewaltigen IT-Investitionen der Finanzbranche. Die Informationssysteme haben heute aber noch eine weitere Funktion: Sie stellen nicht nur wirtschaftliche relevante Daten über börsennotierte Unternehmen zur Verfügung, sondern übernehmen zunehmend auch eine Maklerfunktion zwischen Angebot und Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen. Die privatisierten elektronischen Kommunikationskanäle gleichen blitzschnell ab, wer was anbietet und wer was nachfragt. Die Kosten dieses Vorgangs sind wesentlich geringer als die eigentliche Produktion der angebotenen Wirtschaftsgüter, was hohe Gewinne für die Makler erwarten lässt. So kommt es, dass der Markt- oder Börsenwert von priceline, Uber oder Airbnb den von Lufthansa, BMW oder Hilton Hotels um Längen schlägt (S.69).
Sowohl Internet wie auch die Finanzwelt haben eine Vorliebe für Maklerwesen (=Brokerage). Dieses digitale Brokern funktioniert für ganz unterschiedliche Bedürfnisse, seien es menschliche Beziehungen, freie Transportkapazitäten oder die Belegung von Hotels. Entscheidend dabei ist, wer über die Standards der Netzkommunikation entscheiden kann, und wer genügend Nutzer auf seinem Portal versammeln kann. In der neuen digitalen und privatisierten Netzkommunikation wird die „liberale Phobie gegen den Staat“ dann zur „libertären Feier des fürsorglichen Unternehmens“ (S.104), welches aus seiner Sicht schädliche oder gefährliche Informationen schon vorher aussortiert. Auch die zukünftige Geldschöpfung wird vermehrt auf privaten Informationsplattformen stattfinden. Verkauft wird das als Fürsorge für Menschen, die bisher über kein Bankkonto verfügen und deswegen einer „Inklusion“ bedürfen. Die aus der digitalen Geldschöpfung entstehenden Gewinne werden dann aber von den privaten Besitzer der Plattformen abgeschöpft – abgesichert über ein internationalisiertes, aber entstaatlichtes Privatrecht. Vogl bezeichnet das als kapitalgesteuertes Kolonialsystem. Es sei kein Zufall, dass ehemalige britische Kolonien – wie z.B. Hongkong, Bermuda, Kaimaninseln, britische Kanalinseln usw. ein Netzwerk bilden, das die Basis für den internationalen Finanzmarktkapitalismus darstellt. (S.118). Plattform-Ökonomie und Finanzmarkt verbinden sich heute immer enger. Das betrifft auch den Meinungsaustausch der Menschen untereinander, der mit einer Art „Ökonomie der freien Rede“ gleichgesetzt wird: Menschen dürfen „frei“ das äußern, was die Plattformen zulassen, und Investoren dürfen dort ihr Geld investieren, wo sie wollen, ohne dass ihnen diese „Freiheit“ durch nationale Gesetzgebung streitig gemacht wird. Investitionen werden so zu einer Art Meinungsäußerung im Marktgeschehen – der Markt ist offen, er weiß alles, was er zur Bewertung von marktfähigen Werten braucht. Wird er eingeschränkt, wird das als ökonomisch genauso kontraproduktiv bezeichnet wie die Begrenzung des freien Redeschwalls auf sozialen Netzwerken, die sich in den „Pool der Öffentlichkeit“ ergießen. (S.121) . In der Datenflut der elektronischen Kommunikation gilt dabei mehr und mehr die Regel „Korrelation ersetzt Kausalität“ (S.136), was dann neue Evidenzen schafft, die den Titel von Tatsachen beanspruchen, ohne auf mühsamen Methoden der traditionellen Wissenschaft zurückzugreifen, die da zum Beispiel lauten: Hypothesen aufstellen, mögliche Erklärungen prüfen, sich mit misslungenen Experimenten herumschlagen, die Hypothesen wieder neu anpassen. Viel leichter ist es, viele Daten mit Hilfe von Algorithmen zu korrelieren und daraus seine Schlüsse zu ziehen. Das führt laut Vogl zu einer systematischen De-Legitimation von Wissen: „Inmitten einer informationellen Explosion hat sich eine Ausweitung von Ignoranzzonen eingestellt“ (138). Elektronische Kommunikation und Finanzmärkte haben gemeinsam, dass sie den Menschen von einem „zoon politikon“ zu einem wenig sozialverträglichen Wesen umformen. Bisherige politische und soziale Gemeinschaften wie z.B. traditionelle Volksparteien erleben einen Niedergang. Die Menschen bleiben alleine zurück und suchen eine Wiederverwurzelung durch digitale Kommunikation, z.B. in der Facebookcommunity. Diese Plattformen werden mehr und mehr zu Organen kollektiver Entscheidungsmacht jenseits bisheriger politischer Prozeduren. Sie perfektionieren die „kommunikative Schlagfertigkeit“ (S.176), was dann zu „Shitstorms“ und ähnlichen Phänomenen führt. Darin zeigen sich große Ressentiments der Menschen gegen den sozialen Abstieg und mangelnde menschliche Nähe im digitalen Kapitalismus. Diese Ressentiments werden im Informationskapitalismus zu einem strukturellen Populismus, der „zu einem integralen Bestandteil kapitalistischer Affektökonomie geworden ist“ (S.181). Vogl sieht ein entzweiendes Prinzip, in denen sich Finanzökonomie und Informationsindustrie zusammenfinden, das dazu führt, dass „die Feindseligkeit aller gegen alle nicht zur zu einem erfolgreichen Geschäftsmodell, sondern zu einem überaus zukunftsfähigen Gemeinschaftsgefühl geworden ist“ (S.182). Er schließt nicht aus, dass dies das Ferment einer neuen Vorkriegszeit sein könnte.
Ein düstere Aussicht, die gerade angesichts sich jüngst verschärfender Debatten um die richtige Antwort auf die aktuelle Pandemie nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Kann man sich angesichts der explosionsartigen Debatten überhaupt noch äußern, ohne in „Shitstorms“ zerrieben zu werden? Und welche der sich rasant verbreitenden Informationen führen zu welchen Kursbewegungen an den Finanzmärkten? Wer beschränkt das explosionsartige Wachstum der digitalen Geldmenge? Das Buch von Joseph Vogl analysiert das Zusammenwirken von Kommunikations- und Finanzindustrie zutreffend, beschreibt die düsteren Folgen, die daraus entstehen könnten, aber gibt keinerlei Antworten, wie man dem entgegenwirken könnte. Diese Antworten müssen wir geben: Die Unterbindung privater Geldschöpfung sowie der Aufbau einer öffentlichen Zahlungsinfrastruktur scheinen mir genauso dringend geboten wie die Vergesellschaftung zumindest der digitalen Kommunikationskanäle, die wie von Vogl zutreffend analysiert, ja eng mit der Finanzwirtschaft zusammenhängen. Denn unsere digitale Kommunikation darf genauso wenig von privaten Firmen beherrscht werden wie unser Geld. Dafür muss der parlamentarische Rechtsstaat gestärkt werden, ergänzt durch eine öffentlich kontrollierte Monetative, die für die ganze Gesellschaft da ist und nicht nur im Interesse der privaten Bank- und Informationskonzerne wirkt. Wir dürfen dieser neuen Art des digitalen Kapitalismus nicht kampflos das Feld überlassen.