Rezension: Aaron Sahr “Keystroke-Kapitalismus”

Eine Rezension von Stefan Freichel zum Buch “Keystroke-Kapitalismus: Ungleichheit auf Knopfdruck” von Aaron Sahr, (Hamburger Edition, 2. Edition, 2017, 176 S.).

Um es gleich vorab zu sagen, mit diesem im Bibel-Taschenbuchformat publizierten 176 Seiten hat Dr. Aaron Sahr einen großen Beitrag zur Klärung der soziologischen Frage nach dem Wesenskern unserer heutigen Epoche geleistet.

Was eigentlich ist im heutigen Zeitalter des globalisierten, finanzgetriebenen Kapitalismus anders als früher? Wieso kehren sich ursprüngliche Trends der gesellschaftlichen Entwicklung seit den 70er Jahren um? Wieso wird die Entwicklung zunehmend aus der „Triade aus wachsendem privaten Wohlstand, anschwellenden Schuldenbergen, und zunehmender gesellschaftlicher Ungleichheit“ bestimmt?
Aaron Sahr ist es gelungen, die Strukturen zu identifizieren, die einige wenige bevorzugen und so viele benachteiligen. Dass er dabei die Rolle des Finanzsystems und das ihm innewohnende Geldschöpfungsprivileg der Banken mittels Tastendruck – von Aaron Sahr als „Keystroke-Kapitalismus“ bezeichnet – in den Mittelpunkt seiner soziologischen Ausführungen stellt, mag unter Vollgeld-Diskutanten eine Trivialität darstellen. Jedoch kann das Wie der Darstellung, das Aufzeigen der Verbindungen und Strukturen und das Herausarbeiten der Illegitimität des Geldschöpfungs-Privilegs nur als herausragende soziologische Arbeit bezeichnet werden. Die zunehmende Steigerung der Nachfrage nach Finanzanlagen wird von drei Kräften angetrieben:

1.) Durch die Reichen, die Ihre Geldzuwächse anlegen müssen.
2.) Durch institutionelle Investoren, denen es gelungen ist, die solidarischen Pensionssysteme zu kannibalisieren.
3.) Durch die Realwirtschaft selber, wo viele Unternehmen inzwischen durch Investitionen in Finanzanlagen mehr Kapital generieren als im Kerngeschäft.

Im Vergleich zur Vor-Finanzialisierungs-Epoche ist somit die Bedeutung des in Form von Bankschulden mittels „Keystroke“ erzeugten Kapitals in solch unvorstellbarer Weise angestiegen, dass für Aaron Sahr neben den Akteuren Staat und Märkten ein neuer dritter „Aneignungsakteur“ geboren wurde. Die klare Herausarbeitung der Bedeutung und der Illegitimität dieses neuen „Aneignungsakteurs“, der zunehmend die traditionellen „Aneignungsakteure“ Staat und kapitalistische Märkte unter Druck setzt, ist die große Leistung dieses Buches.

Der Maschinenraum des Finanz-Kapitalismus wird immer stärker durch das Kapital, das durch den Finanzsektor durch „paraökonomischen Prozesse“ erzeugt wird, befeuert. Bankkredite sind für Aaron Sahr „paraökonomische Praktiken, eine Anomalie im Herzen der kapitalistischen Ökonomie“. Der Soziologe wählt den Begriff paraökonomisch. Mir fällt bei diesem schmerzhaften Befund eher die Bezeichnung parasitär ein, was vermutlich ein Beleg ist, keine wissenschaftliche Contenance wahren zu müssen. Der neue dritte „Umverteilungsapparat“ agiert für Aaron Sahr im Gegensatz zu den alten Apparaten Markt und Staat illegitim. Im Gegensatz zur Realwirtschaft, „wo Können immer Haben voraussetzt“, benötigt der neue Apparat kein Haben zur Aneignung. Im Gegensatz zu über Wahlen legitimierter Staatsmacht arbeitet dieser zudem undemokratisch und höchst intransparent im Verborgenen. Dabei sollten nach Aaron Sahr selbst „glühende Neoliberale, die als standhafte Verteidiger unregulierter Märkte auftreten und die Fahne der Freiheit schwingen, die legitimatorische Obdachlosigkeit des Keystroke-Kapitalismus eingestehen müssen.“ Die durch illegitime Umverteilung entstandenen Schäden im Sozialgefüge sind bis dato weitgehen intransparent und daher kaum quantifizierbar. Auch die durch den Apparat generierten Zinsgewinne können als weitgehend illegitime Bereicherung angesehen werden: „Man kann deswegen festhalten, dass die Allgemeinheit (als politische Gemeinschaft) und die Mittel- und Unterschichten (als sozialstrukturelle Gruppen) die Kosten der paraökonomischen Geldschöpfung tragen, während private Unternehmen und Vermögende die Gewinne einbehalten.“

Die Hauptprofiteure sind somit die innerhalb des Apparats tätigen Akteure: Ob Bank- oder Konzerneigentümer oder Ihre Funktionsträger. Alle sind Sie Teilnehmer eines „Plünderungszirkels“ und schustern sich risikolos mittels paraökonomischer Prozesse immer mehr Eigentumsansprüche zu. Diese Entwicklung findet vor den Augen der Öffentlichkeit und 10 Jahre nach der beinah stattgefundenen Kernschmelze der Finanzwelt immer noch im Verborgenen statt. Ein Skandal, der aus meiner Sicht weitgehend dem Versagen der Ökonomen geschuldet ist. Sie sind teils Lichtjahre von einer wirklichkeitsnahen Beschreibung der ökonomischen Strukturen und Kräfteverhältnisse entfernt. Allzu oft begnügen diese sich lediglich damit, die Aneignungs-Privilegien der Märkte gegenüber dem Staat zu verteidigen und ignorieren zugleich den neuen illegitimen Aneignungsakteur Finanzsektor. Da stellt sich – meiner Meinung nach – schon die Frage, warum man die deutschen VWL-Lehrstühle weiterhin mit Steuergeldern alimentiert und diese nicht direkt mit ihren Ansprüchen an die Profiteure des neuen Apparates verweist. Dass Soziologen wie Aaron Sahr diese Lücke füllen und eine treffende Bestandsaufnahme der heutigen ökonomischen Machtverhältnisse und der daraus resultierenden zunehmenden Ungleichheit liefern, lässt hoffen. Zumal er nicht bei seiner soziologischen Beschreibung verharrt, sondern neue Handlungsmuster zur Auflösung der „legitimatorischen Obdachlosigkeit“ des Keystroke-Kapitalismus einfordert.

Für ihn zeichnen sich zwei Optionen ab, die sich auch gegenseitig ergänzen können: Die erste Option wäre, Banken mittels Vollgeldreform zu ökonomisieren. Die zweite, die Geldschöpfung durch Übertragung des Geldschöpfungsprivilegs auf politische Akteure zu demokratisieren. Dass der Autor höchste Handlungsnotwendigkeit sieht und eher der zweiten Option zuneigt, ohne eine Patentlösung anbieten zu wollen, dokumentiert er im Schlusssatz seines Buches: „Trotz all der nachvollziehbaren Bedenken, die den Alternativen des privatisierten paraökonomischen Privilegs entgegengehalten werden und werden könnten, stehen eher die Bedenkenträger in der Pflicht, das ökonomische und soziale Scheitern des Experiments rein privatwirtschaftlicher Erzeugung von Geld aus dem Nichts zur Kenntnis zu nehmen und sich für das Nachdenken über Alternativen zu öffnen.“

Es ist schwer, ein sprachlich und inhaltlich so kompaktes Werk in einer Rezension nicht bis zur Unkenntlichkeit zu komprimieren. Viele soziologischen Begrifflichkeiten und logischen Ableitungen des Autors mussten unerwähnt bleiben. Ich empfehle daher allen mit einer soziologischen Sprachwelt vertrauten und an einer „gerechteren Welt“ interessierten Menschen dieses Buch in Gänze zu lesen. Es führt uns nicht nur das Wesen unserer Epoche, sondern auch die Dimension der zukünftigen gesellschaftlichen Verteilungs-Auseinandersetzungen im ungleichen Kampf 2-gegen-1 vor Augen und erklärt uns plausibel und wertneutral die „eingeführten Muster und Aktivitäten“ der Akteure. Dass Aaron Sahr mit seiner älteren Dissertationsveröffentlichung “Das Versprechen des Geldes. Eine Praxistheorie des Kredits” für den “Opus Primum” Preis für die beste wissenschaftliche Nachwuchspublikation nominiert wurde, ist ein weiterer Beleg für die Qualität des Autors. Es wäre schon verwunderlich, wenn er diesen Preis aufgrund der Bedeutsamkeit seines Forschungsgenstandes und seiner sprachlichen Präzision am 22. November 2017 nicht erhalten würde.

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