von Franz Schneider: Die Finanzkrise 2007-2009 ist für Wullweber der entscheidende Wendepunkt auf dem Finanzmarkt für das Verhältnis von Zentralbanken – delegiert durch souveräne Regierungen – und Akteuren des privaten Großkapitals.
Seit den 80er Jahren – also nach der endgültigen Aufgabe des Bretton-Woods-Systems 1973 – erfolgte ein ständiger Ausbau des Schattenbankensystems. Er geschah, ohne dass die Zentralbanken sich aktiv einmischten. Sie handhabten die üblichen Instrumente der Leitzinspolitik und des Basel-Regelwerks. Die Wirkungslosigkeit beider Instrumente wird an zwei Tatsachen überdeutlich. Das Steuerungsinstrument Zinsen verlor nach und nach seine Wirksamkeit. Ihr bis heute anhaltender Sinkflug konnte daran nichts ändern.
Nach der Lektüre des Buches drängt sich ein Verdacht auf. Auch nach der Finanzkrise wurde an dieser wirkungslosen Geldpolitik gegenüber der gutgläubigen Öffentlichkeit festgehalten, während im Hintergrund Veränderungen stattfanden, die die Öffentlichkeit nicht wahrnehmen sollte. Auf diese Veränderungen richtet Wullweber seine Scheinwerfer.
Das zweite Indiz der wirkungslosen Geldpolitik der Zentralbanken wird durch die sich immer höher auftürmenden Stapel der Basel-Bestimmungen geliefert. Das Regelwerk kam den Flucht- und Ausweichbewegungen der Schattenbankenakteure nicht hinterher.
2008 war dann (zunächst einmal) Schluss. Die Subprime-Krise, ausgehend von den USA, breitete sich weltweit aus. Die Akteure (Investmentbanken, große Vermögensverwalter, Fonds, Versicherungen etc.) trauten einander nicht mehr über den Weg. Auch die unzähligen Derivate als private Sicherungsinstrumente genügten nicht mehr, um das Misstrauen zu beseitigen. Mit „verbrieften Wertpapieren“, in denen faule Hypothekar-Kredite versteckt wurden, hatten sie sich ihren eigenen Strick gedreht. Auf dem Interbankenmarkt floss kein Geld mehr, keiner leihte mehr dem anderen sein Geld. Alle Großbanken waren in das Schattenbankensystem verstrickt. Sie hatten es als Entsorgungsdepot für ihre faulen Kredite genutzt.
Zentralbanken im Schulterschuss mit ihren Regierungen retteten als Lender of Last Resort (Kreditgeber letzter Instanz) das weltweite Bankensystem mit Milliardenhilfen vor dem Zusammenbruch. Wieder zeigte sich, dass nur die durch Zentralbanken bereitgestellte Liquidität – Zentralbankgeld also – in der Lage ist, das private Finanzsystem zu retten. Der Staat als Kreditausfallversicherung.
Diese Rettungsaktion war für die Zentralbanken, angeführt von der amerikanischen Notenbank FED, der Weckruf zu einer entscheidenden Veränderung ihrer geldpolitischen Strategie. Im Schattenbankensystem VOR der Finanzkrise wurde dem Risiko mehr Gewicht gegeben als der Sicherheit. NACH der Finanzkrise sollten Risiko UND Sicherheit eine gleichwertige Rolle spielen. Das aber ist nur möglich durch ständige Intervention der Zentralbanken.
Denn, wenn das Risiko erlaubt ist, dann wird auch Instabilität zugelassen. Gleichzeitig muss aber von der Zentralbank Sicherheit zur Verfügung gestellt werden, um das System zu stabilisieren. Wir haben es also mit einer ständigen „Krisenintervention“ zu tun. EU-Kommission und EZB haben die Ausweitung des Repomarktes – dazu gleich mehr –, der vor der Krise nicht kontrolliert wurde, nun sogar noch forciert. Und zwar deshalb, um den Absatz von Staatsanleihen zu sichern.
Das klingt zwar paradox, vereinbart sich aber vollständig mit Hyman Minskys (US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler) Erkenntnis, dass der Kapitalismus „systemisch“ instabil ist. Finanzspekulation, gleichbedeutend mit Kreditlogik, gehören zu ihm wie der Regen zur Wolke. Wullweber stellt illusionslos fest, dass zwischen Regierungen, Zentralbanken und Privatkapital Konsens darüber besteht, dieses paradoxe Spiel am Leben zu erhalten. Es besteht kein Staat-Markt-Gegensatz, sondern es geht um mehr Staat UND mehr Markt.
In dem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass Wullweber auf einer klaren Unterscheidung von Keynesianismus und Zentralbankkapitalismus besteht. Das heißt, die derzeitigen Covid-Krise-Interventionen in Milliarden- und Billionenbeträgen haben nichts mit Keynesianismus sehr wohl aber mit Blasenbildung und wachsender Ungleichheit zu tun. Keynes stritt für fiskalische Interventionspolitik des Staates. Sie wird zeitlich befristet eingesetzt, um konjunkturelle Schwankungen auszugleichen.
Das wichtigste Instrument im Schattenbankensystem sind Repos. Darunter sind Repurchase-Agreements, sogenannte Rückkaufvereinbarungen zu verstehen. Es ist ein Vertragsgeschäft, bei dem der eine Akteur Geld hat und es anlegen möchte und der andere Akteur Geld benötigt und dafür ein Wertpapier anbietet, das die Sicherheit dieser Anlage garantiert. Die Vereinbarung besteht darin, dass der Wertpapierbesitzer dasselbe Wertpapier wieder zu einem höheren Preis (Tilgung + Zinsen) zurückkaufen wird. Die Erhöhung stellt den Gewinn des Geldverleihers dar. Hinzu kommen eventuelle Nachschusspflichten bei Kursveränderungen. Das besondere auf dem Repomarkt ist, dass es sich hierbei zum großen Teil um sehr kurzfristige Geschäfte handelt. Man nennt sie Übernacht-Geschäfte. Das macht deutlich, wie sehr Liquidität, also Flüssigkeit des Geldes im Schattenbankensystem, Spitz auf Knopf genäht ist. Es geht immer wieder und vor allem um Überbrückung kurzer Liquiditätsengpässe.
In diesem Geldmarkt-Geschäft von Geldangebot, Geldnachfrage und Bereitstellung von Sicherheiten (Wertpapiere) – dem „marktbasierten Kreditsystem“ im Gegensatz zum klassischen „bankbasierten Kreditsystem“ – haben die Zentralbanken nach der Finanzkrise eine aktive Rolle übernommen. Sie sind zum Broker-Dealer (Makler) und Market-Maker letzter Instanz für Kreditgeber und Kreditnehmer geworden.
Einerseits durch das Einschießen riesiger Geldsummen im Rahmen der „lockeren Geldpolitik“, mit denen die Zentralbanken das Risiko ständig nähren. Dabei lassen sie die privaten Akteure kräftig mitwirken, indem sie ihnen Zugang zu Zentralbankgeld ermöglichen. Auch solchen, die bisher keine offizielle Banklizenz besaßen wie große Vermögensverwalter, Fonds etc. Da auf dem Repomarkt grundsätzlich keine Geldschöpfung stattfindet, sondern nur Geldvermittlung, braucht Blackrock nur zu seiner Bank zu gehen und nimmt von seinem Konto das in Giralgeld „verwandelte“ Zentralbankgeld entgegen.
Anderseits halten Zentralbanken das stärkste Vertrauens- und Sicherheitspfand in der Hand, die Staatsanleihe. Auch hier großzügiges Agieren. Sollten die Erwerber das notwendige Zentralbankgeld für Anleihen nicht zur Verfügung haben, können sie es sich bei der Zentralbank leihen. Das gilt ebenso für den Fall, dass andere Sicherheiten teurer werden, weil das Risiko immer größer wird und das dafür vorhandene Geld nicht mehr ausreicht.
Um sich die Ausmaße vorzustellen, die mittlerweile das Schattenbankensystem angenommen hat, der folgende abschließende Hinweis: sein weltweites Finanzvermögen übersteigt deutlich das der Geschäftsbanken.
Welche Lösungen bietet Wullweber an bzw. welche Forderungen erhebt er nach seiner beeindruckenden Analyse der Funktionsweise des Zentralbankkapitalismus?
– Politische Bereitschaft, eine robuste, rechtlich sanktionierte stark regulierte Finanzarchitektur aufzubauen mit entsprechenden effektiven Gesetzen
– Direkte Staatsfinanzierung durch die Zentralbanken
– Fiskalpolitik, die nicht nur stabilisiert, sondern die Wirtschaft stark ankurbelt. Damit zusammenhängend, eine kritische Reflexion über den Rückzug von Regierungen aus der Verantwortung, Wirtschaft zu gestalten und der Zuweisung der Schuld an Zentralbanken für nicht getroffene politische Entscheidungen
– Einführung einer Finanztransaktionssteuer
– Entschleunigung des Finanzhandels
– Zurückführung des Finanzsystems auf die Bereitstellung von Kredit und Liquidität für die produktive Ökonomie
– Überdenken des Mandats der Zentralbanken, das stark auf Preisstabilität und ein enges Inflationsziel fixiert ist
– Stärkere Demokratisierung der Geldpolitik der Zentralbanken und der Geldpolitik allgemein durch stärkere Diskussionen darüber in Gesellschaft und Parlamenten