Eine Rezension von Prof. Franz Schneider (Professur für Wirtschaftsfranzösisch, Arbeitsschwerpunkte: (Fach-)Lexikografie, Terminologische Analysen) zum Buch Kapital und Ressentiment von Joseph Vogl, (C.H.Beck Verlag München).
Wer begreifen möchte, welche Macht sich durch die „Verkettung“ von Finanzkapital und Internet-Plattformen zusammengeballt hat und wie Regierungen und Zentralbanken dabei zusehen, kommt um dieses Buch nicht herum. Die Menschheit in ihrer Rolle als Nutzer der Netzwerke ist ihr ausgeliefert. Hinter ihrem eigenen Rücken wird sie zur Erzeugung des „Verhaltensmehrwerts“ für die Reichen und die Mächtigen ausgebeutet.
Aus Vereinfachungsgründen verzichtet der Rezensent bewusst an einigen interessanten Stellen, die etwas ausführlicherer Erklärungen bedürften, auf eine Vertiefung. Das betrifft beispielsweise den „smart contract“, die „Internetprotokolle“, die „abstrakte Maschine“, die „Gouvernementalität“ etc.
Der Autor Joseph Vogl ist Professor für Neuere deutsche Literatur, Literatur- und Kulturwissenschaft/Medien an der Hmboldt-Universität zu Berlin und Permanent Visiting Professor an der Princeton University.
Die Argumentation des 1. Kapitels „monetative Gewalt“ ergibt sich aus der Erkenntnis, dass die „Liberalisierung des Kapitalverkehrs“ in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine weltweite Entgrenzung der Finanzströme ausgelöst hat. Eine entscheidende „Funktionsänderung von Zentralbanken“ ist die Folge. Aus der Verwalterin nationaler Staatsdefizite wird eine „bankers‘ bank“. Mit der grenzübergreifenden Sicherung des Banken-, Finanz- und Währungssystems entfernen sich Zentralbanken immer mehr von dem kontrollierenden Zugriff nationaler staatlicher Aufsichten. Den „vielleicht radikalsten“ Ausdruck findet dieser Entfernungsprozess im „Dogma der ‚Unabhängigkeit‘“ der EZB. Der Autor spricht unverblümt vom „Minderheitenschutz für die Vertreter der Finanz gegenüber wechselhaften demokratischen Mehrheiten“. Hinter dem Schutzschirm der Neutralität können die Fianzmärkte ungestört ganze „Bevölkerungen in den Wertschöpfungsprozess der Finanzmärkte“ einbinden. Der Staat leistet sogar noch Schützenhilfe, indem er zulässt, dass Vertreter des privaten Finanzkapitals selbst die Gesetze dazu schreiben. Die Demokratie wird „marktform“ hergerichtet. Die Steuerungsfähigkeit der Geldpolitik durch die EZB wird durch die zunehmende Macht des Finanzmarktes erheblich beeinträchtigt. Gleichzeitig wird dieser anfälliger für systemische Risiken. Die „Hyperfinanzialisierung“ führt zu einer Erhöhung systemischer Risiken“. Diese können „nicht mehr durch Wachstumsaussichten kompensiert werden“. Deshalb müssen „profitable Auswege und neue Verfahren der Wertschöpfung“ in Angriff genommen werden.
Im 2. Kapitel „Informationsstandard – zur Episteme der Finanzökonomie“ legt der Autor die Entwicklung hin zu einem solchen Ausweg dar. Sie besteht in der „Verkettung von Information und Finanz“. Das heißt in der „Informatisierung der Finanzmärkte“ und der „Finanzialisierung von Information“. Da finden zwei zusammen, die nur von einer vergleichbaren Dynamik getrieben werden: Immer mehr Geld, immer mehr Informationen. Auf der einen Seite das anlagesuchende Finanzkapital mit riesigen Computerleistungen zur Datengewinnung, auf der anderen Seite gigantische Datenkraken von Kunden der Internet-Plattform-Ökonomie (Google, Amazon, Facebook, Apple). Die Anhäufung riesiger anlagerelevanter Datenmengen über Branchen, Unternehmen, Rohstoffmärkte und Währungskurse stößt an Verwertungsgrenzen. Die zeitlichen Wissensvorsprünge – Stichwort Hochfrequenzhandel – schrumpfen auf Millisekunden zusammen. Der Informationsbegriff gerät ins Wanken. Wissen, Wahrheit, Begründung, Ursache verlieren an Bedeutung. Die Lösung zur Renditesteigerung besteht darin, das Wissensschema zu verlassen und in das affektive Schema überzuwechseln. Meinungen, Wertungen, Überraschungseffekte werden als Kaufanreize in die Waagschale geworfen. Die Erregungsdifferenz zum bisher Gekannten soll maximal ausgeschöpft werden. Die beste Arena, um Erregungen gegenseitig hochzupeitschen, sind „communinities“, Online-Netzwerke wie Facebook, Snapchat, Twitter.
Die Argumentation des Autors im 3. Kapitel „Plattformen“ führt den Leser hin zu dem für das ganze Buch zentralen Begriff des „Verhaltensmehrwerts“. Mit der Gewinung von Daten über das Verhalten von Menschen soll das ganz große Geschäft mit der Werbung gemacht werden. Wenn ich möglichst alles über einen Menschen weiß, dann kann ich ihn mit den Waren bewerben, bei denen er am wahrscheinlichsten zugreift. In dieser banalen Erkenntnis erschließt sich das pragmatische Motiv der Finanzbranche, ihr Geld in die Informationsökonomie zu investieren. Wenn Karl Marx von Mehrwert spricht, dann meint er die Geldsumme, die sich der Unternehmer in die eigene Tasche stecken kann. Also die Summe, die über den von ihm gezahlten Lohn hinausgeht. Wenn die heutigen Finanz- und Internet-Plattform-Kapitalisten an Mehrwert denken, dann lächeln sie über diesen Pinuts-Mehrwert. Die Abschöpfer des Verhaltensmehrwerts begnügen sich nicht mit einer achtstündigen Arbeitszeit. Sie begnügen sich auch nicht damit, dass der Mensch nur als arbeitendes Wesen zur Abschöpfung herangezogen wird. Die Mehrwertquelle wird gewaltig ausgedehnt. Auf das gesamte Verhalten des Menschen und zeitlich unbeschränkt. Also rund um die Uhr, 362 Tage im Jahr, immer dann, wenn er zum Netz-Nutzer wird. Den Nutzern soll noch nicht einmal bewusst sein, dass sie und wie sie ein Mehrwert verheißendes Produkt erzeugen. Das Ganze soll vielmehr Spaß machen. Der Autor bringt die Zwitterstellung von Nutzer und Produzent im Begriff des „Produsers“ auf den Punkt. Die Herstellung dieses „Produkts“ ist besonders kostensparend, weil es ohne mühevolle und kostenverursachende Pflege eigener Produktionsmittel zustandekommt. Amazon, Facebook und unzählige andere Plattformen produzieren keine eigenen Waren. Die Zahl ihrer Datenlieferanten erhöht sich quasi automatisch ohne weiteres Zutun. Denn das Netzwerkprinzip ‘Nutzer generieren weitere Nutzer‘ verheißt „Monstermärkte“. Das mehrwertliefernde Produkt besteht aus erkannten Vorlieben der Nutzer. Es wird durch Quantifizieren, Aggregieren, Filtern, Analysieren der „durch das Online-Verhalten hinterlassenen Informationsspuren“ erzeugt. Mit dem Wissen über Vorlieben von Kunden kann die Online-Plattform auf ihrer Website Werbeplätze an Anbieter verkaufen, deren Produkte und Dienstleistungen diese Vorlieben am besten erfüllen. Vogl weist darauf hin, dass Google und Facebook „neunzig und mehr Prozent ihrer Erträge aus Werbeeinnnahmen beziehen“.
All diese beschriebenen Vorgänge sind nur möglich in sogenannten „Kontrollgesellschaften“. In ihnen ist gewährleistet, dass das Geschäft der Datenkraken nicht nur nicht gestört, sondern sogar noch willig befördert wird.
Die „Kontrollmacht“ (4. Kapitel) geht von den „Digitalmonopolisten“ Google, Apple, Facebook, Amazon aus. Entstanden sind sie aus der „Symbiose mit der Finanzindustrie“. Ihre große Macht ergibt sich daraus, dass sie nicht auf Märkten operieren, sondern „sich selbst als Märkte“ installieren. Vogl spricht von „proprietären Märkten“, von Märkten also, die die Monopolisten als ihr Eigentum betrachten. Sie bestimmen, wer Zugang bekommt, wie die Informationsflüsse darauf kontrolliert und für eigene Zwecke verwertet werden. Sie befreien sich – vom Gesetzgeber wohlwollend assistiert – von jeder Haftungsübernahme für Inhalte der Informationen. Sie schaffen sich sogar ihr eigenes Recht „jenseits des Staates“. Jenseits des klassischen Staates muss es eigentlich heißen. Denn Vogl präzisiert sehr richtig, dass eine Einwanderung „staatlicher Supervision ins Innere des Marktgeschehens“ stattfindet.
Man hat es mit einer Übernahme staatlicher Hohheitsrechte durch Apple, Amazon & Co. zu tun. Am deutlichsten wird das am aktuellen Beispiel der Privatwährung „Diem“ (vormals Libra). Sie wird von der Diem Association, einer Tochtergesellschaft von Facebook und weiteren 27 Mitgliedern, 2022 herausgegeben. Vogl spricht von einer neuen „Architektur des internationalen Währungssysystems“. Damit ist eine „schleichende Abwanderung geldpolitischer Souveränität von Zentralbanken hin zu den Finanzmärkten“ verbunden. Das Besorgniserregende an dieser Entwicklung ist, dass hier ein Großangriff des „digitalen Kapitalismus“ auf alle Menschen dieses Planeten stattfindet.
Die Überschrift des 5. Kapitels „Spiele der Wahrheit“ kann als Hinweis darauf gedeutet werden, dass diese weltweite Machtverschiebung nur dadurch möglich ist, wenn die Datenlieferanten entsprechend konditioniert und geformt werden. Sie müssen dazu animiert werden, so viel wie möglich Informationen preiszugeben. Sei es über sich selbst oder über das, worüber gerade am meisten Informationen hin und herfließen. Der Wahrheitsgehalt dieser Informationen spielt keine große Rolle. Die Meinung ist wichtig. Ganz wichtig ist, dass sich die Meinungslieferanten als community, als Glaubensgemeinschaft begreifen. Dass ihnen klar ist, dass sie mit der Meinung, die die größte Überraschung und die größte Begeisterung auslöst, die community immer attraktiver und immer größer machen. Die Meinung, die schließlich in dem gegenseitigen Hochschaukelungsprozess ganz oben steht, ist dann das Produkt, durch dessen werbewirksame Verwertung der größte Mehrwert von der Plattform abgeschöpft werden kann. Der größte „Verhaltensmehrwert“ eben.
In dem „Exkurs: Fabel und Finanz“ verdeutlicht der Autor die Perfektionierung dieser Spiele mit der Wahrheit anhand der literarischen Gestalt des „Confidence-Man“ und ihrer Vervielfältigung durch „Binnenerzähler“ im Roman von Melville. Fabulanten sind sie, in denen die Grenzen zwischen „Vertrauensmann“ und „Lügner“ verschwimmen. In den Netzwerken haben weder Vertrauen noch Lüge eine Bedeutung. Bedeutung hat die digitale „Erleuchtung“. Die „Produser“ sollen sich in ihrem enthemmten Fabulieren als Bringer der Erleuchtung produzieren, um den Verhaltensmehrwert hochzutreiben.
Im 6. und letzten Kapitel „Die List der ressentimentalen Vernunft“ beschreibt Joseph Vogl das psyscho-soziale Muster, nach dem der Produser als Mensch allgemein und in seiner Rolle als Produzent und als Konsument im besonderen funktioniert. Unbeleckt von Wissen aber affektiv aufgeladen ist er dem „Ressentiment“ ausgeliefert. Er ist von der Überzeugung gesteuert „Irgend jemand muss schuld sein, dass ich mich schlecht befinde“. Der Autor spricht von Schuldzuweisung als „reflektierender Affekt“. Der neidische Mensch, der immer meint, ihm fehle etwas und er müsse Vergeltung am „Anderen“ – dem Fremden – üben. Einerseits der Nicht-Wisser als beste mehrwertschöpfende Produktivkraft des Finanz- und Internetkapitals, andererseits der ständig nach Sündenböcken suchende ressentimentale Mensch. Eine gefährliche Mischung in dem ressentimentalen Produser, die den Autor veranlasst, mahnend auf den Sündenbock des “‘gierigen‘ jüdischen Finanzkapitalisten“ zu verweisen und warnend „proprietäre Märkte“ als „Ferment einer neuen Vorkriegszeit“ zu charakterisieren
Fazit: Ein Buch, das den Horizont der üblichen ökonomischen Reflexion überschreitet und gerade daraus seine analytische Tiefe, seine synthetische Kraft, seinen Erkenntnis-Mehrwert, kurz, seine intellektuelle Faszinationskraft bezieht.