Rezension des Buches von Wolfgang Streeck „Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus. Zwischen Globalismus und Demokratie“. (2021).
Von Prof. Dr. Franz Schneider, Saarbrücken.
Angesichts der riesigen zukünftigen Herausforderungen, vor denen die Menschheit steht, müssen wir uns alle intensiv Gedanken über menschenwürdige Bedingungen unseres zukünftigen Zusammenlebens machen. Sie sind notwendig, weil es um nichts Geringeres als das Fortbestehen einer würdevollen Weiterexistenz der menschlichen Spezies geht. Der Rezensent ist überzeugt davon, dass sich Streeck diesen Herausforderungen stellt.
Der Autor, deutscher Soziologe und langjähriger Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln, spricht von einer Pattsituation, in der sich sowohl die neoliberale kapitalistische Wirtschaft als auch das regulative politische System befinden. Als diskutierbare Auswege sieht er einen „nach oben“ und einen „nach unten“. Er selbst präferiert den zweiten.
Der Ausweg nach oben vertraut auf ein supranationales politisches System und supranationale institutionelle Einrichtungen, die die politischen und wirtschaftlichen Prozesse weltweit zentral regulieren sollen. Streeck hält diesen „Ausweg“ für eine weder realisierbare noch wünschenswerte Alternative. Sie ist mit demokratischen Prinzipien nicht vereinbar. Der Misserfolg der unter imperialer US-amerikanischer Führung stehenden sogenannten global governance hat dies eindrucksvoll bestätigt.
Der Ausweg nach unten vertraut auf die gesellschafts- und ökonomisch stabilisierende Funktion einer lokal verankerten Demokratie. Demokratie kann nur „lokal“ stattfinden. Die Territorien, in denen sie realisierbar ist, dürfen nicht zu groß sein.
Die Beziehungen zwischen diesen Territorien bedürfen der Regulierung. Die besten Voraussetzungen für funktionierende Beziehungen bestehen dann, wenn sie sich in beiden Territorien auf ein gemeinsames kollektives Bewusstsein im Hinblick auf eine bestimmte Problemstellung stützen können. Dieses Bewusstsein muss das Ergebnis eines demokratischen Diskussionsprozesses sein. Es darf den Bevölkerungen nicht von einer „Elite“ von oben aufgestülpt werden.
Der wesentliche Konstruktionsfehler der Europäischen Union und ihrer Verträge besteht darin, eine „souveräne Nationalstaatlichkeit“ nicht zugelassen zu haben. Über die Funktion des Euro etwa wurde ein demokratischer Konsens in den EU-Staaten niemals hergestellt. Wesentlicher Verursacher dieser verfehlten Konstruktion ist die stärkste Hegemonial-Macht der EU, Deutschland. Man kann von einer spiegelbildlichen Erfahrung des gescheiterten USA- bzw. Dollarimperialismus sprechen. „Schüler“ sollten der Versuchung widerstehen, ihrem „Lehrmeister“ nachzueifern.
Streeck vertritt die Ansicht, dass mit hegemonialen oder imperialen Ansprüchen keine Demokratie praktiziert werden kann. Die Politik kann daher ihre regulierende Funktion gegenüber der kapitalistischen Wirtschaft unter den neoliberalen Bedingungen einer Hyperglobalisierung nicht mehr erfüllen. Diese Kritik richtet er ganz besonders an die USA. Er ist überzeugt, dass die imperiale Rolle der USA als „Weltpolizist“ und „Weltrichter“ an ihre Grenzen gestoßen ist. Auflösungserscheinungen an der Peripherie des US-Imperiums erleben wir zurzeit in Afghanistan. In den nächsten Jahrzehnten werden die USA damit beschäftigt sein, in ihrem eigenen Land die Gesellschaft wieder zu einen.
Günstige Bedingungen also für die Eröffnung neuer Perspektiven einer zukünftigen Staatenordnung. In einer polyzentrischen konföderalen Staatenordnung, also einem Staatenbund, könnte das Projekt konkrete Gestalt annehmen. Die einzelnen Staaten behalten in dieser Konföderation eine höhere Selbständigkeit als die teilsouveränen Einheiten in einem föderalen Bundesstaat wie die USA oder die Bundesrepublik Deutschland. Die polaren Zentren dieser internationalen Ordnung wären nach Streeck China, die USA und Europa, das seine konfrontative US-gefällige Stellung zu Russland aufgibt. Streeck sieht weder bei China noch bei Russland ein „missionarisches Bedürfnis nach einer Universalisierung ihrer Gesellschaftsordnung“ wie es bei den USA der Fall ist. Beide müssten mit erheblichen Widerständen in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft rechnen.
Eine polyzentrische Staatenordnung ermöglicht nach Streeck die „gesellschaftliche Rückeinbettung der im Neoliberalismus aus Politik und Gesellschaft herausgelösten kapitalistischen Wirtschaft“. Diese soll durch „dazu geeignete Staaten in einem sie unterstützenden Staatensystem“ „saniert“ und „transformiert“ werden.
Das alles klingt gut durchdacht und daher überzeugend. Nach Meinung des Rezensenten verdienen die Vorstellungen Streecks ausgedehnten Raum in zukünftigen gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Debatten.
Nun kommt das kleine b-moll. Es lässt sich etwa so ausdrücken: In den relativ kurzen Passagen des Buches über das Thema Geld und Zentralbanken angesichts eines Umfangs von 511 Seiten kommt der neugierige Leser nicht so recht auf seine Kosten. Es dürfte schließlich nicht übertrieben sein zu sagen, dass das Geld- und Finanzsystem der Maschinenraum des neoliberalen Kapitalismus ist. Streeck dürfte dem zustimmen, zumal es für ihn keinen „Geldschleier“ gibt. Geld ist also keine „quantité négligeable“ für die Güter- und Dienstleistungsströme. Die Erzeugung von Geld, die Bestimmung des Umfangs von Geldströmen, die Leitung von Geldströmen sind Faktoren von fundamentaler Bedeutung im Hinblick auf die Entstehung sozial gerechter oder ungerechter Gesellschaftssysteme.
Der Rezensent wird etwas nachdenklich, wenn Streeck vom Geld allgemein spricht. Es sei “wahrscheinlich die rätselhafteste und am wenigsten beherrschbare Institution nicht nur der modernen Gesellschaft, sondern jeder Gesellschaft, in der es Geld gibt“. Geld nimmt für ihn kaum beherrschbare vielfältige Formen an. Die von ihm erwähnte Selbstverwertungsdynamik im Geld, sein Fetischcharakter ist unbestritten. Ist es aber hilfreich, sich damit abzufinden, so der Eindruck, dass die Geldpolitik einer Zentralbank eine Angelegenheit von „Psychologie“ und „Gespür“ sei. Leider legen einschlägige Aussagen „großer“ Zentralbankchefs solche Annahmen nahe.
Eine Mystifizierung von Geld drängt sich schnell auf. Warum Streeck aber im Zusammenhang mit der Rätselhaftigkeit des Geldes pauschal zitierend Autoren wie Michel Aglietta und Josef Huber ins Spiel bringt, erschließt sich nicht recht. Aglietta spricht wohl von der Ambivalenz des Geldes, von seinem öffentlichen Charakter als soziales Band (lien social) und von seinem privaten Charakter, der sich in dem Bestreben ausdrückt, sich Geld anzueignen, um Macht über die Öffentlichkeit zu gewinnen. Das hat wenig mit Rätselhaftigkeit und Psychologie zu tun. Für Huber, geistiger Vater des Vollgeldkonzepts, ist Geld ein Zahlungsmittel, das er scharf vom Kredit unterscheidet. Beide entwickeln Konzepte, wie eine Zentralbank oder eine in der Funktion vergleichbare monetäre Institution – Huber nennt sie „Monetative“ – sozial verantwortungsvoll ihre Aufgabe erfüllen könnten. Natürlich sind auch die Vorschläge dieser Autoren diskutierbar, wie es nun mal im wissenschaftlichen Diskurs üblich ist. Wenn eine Zentralbank wie die EZB, wie Streeck meint, nichts im Hinblich auf Verteilungsfragen und soziale Ungleichheit leisten kann, wenn sie ihre Entscheidungen, politisch abgesichert, auf der imperialen Hinterbühne trifft, dann hat er ja gar nicht Unrecht. Es bleibt aber die Frage unbeantwortet, wie sie denn besser funktionieren könnte? Verzichtbar ist sie ja wohl kaum, denn ihr kommt die wichtige Aufgabe der „Endabrechnung“ zu. Aglietta spricht von der „finalité des paiements“. Irgendwann müssen die Karten eben auf den Tisch gelegt werden.
Die Vermutung ist erlaubt, dass Streeck sich von einer zukünftigen nationalstaatlichen Zentralbank eine „gesellschaftliche Rückeinbettung“ der kapitalistischen Wirtschaft – die er jedenfalls nach Einschätzung des Rezensenten nicht in Frage stellt – erhofft. Streeck hält eine „dezentralisierende Neubestimmung der Aufgaben der Europäischen Zentralbank sowie der dem EZB-System angehörigen nationalen Zentralbanken“ für notwendig. Wie das alles aussehen wird „würde sich ergeben müssen“. Das bleibt also vage.
Eindeutigere Aussagen macht Streeck im Hinblick auf die Notwendigkeit einer radikalen Geld- und Währungsreform in Europa. Er vergleicht deren Radikalität mit der des Bretton Woods Systems von 1944. „Als Bretton-Woods-System wird die nach dem Zweiten Weltkrieg neu geschaffene internationale Währungsordnung mit Wechselkursbandbreiten bezeichnet, die vom US-Dollar als Ankerwährung bestimmt war.“(Wikipedia) Die von Streeck angemahnte Reform könnte „mit einer teilweisen Wiederherstellung der geldpolitischen Autonomie mindestens der Länder des Mittelmeerraums beginnen“. Auch Josef Huber spricht sich im Übrigen für einen Kapital- und Schuldenschnitt in den Euroländern aus, um der unaufgelösten Kredit- und Schuldenblase und dem Weiterbestehen der Banken- und Finanzkrise ein Ende zu bereiten.
Streeck kommt glücklicherweise auf den Wechselkursmechanismus zu sprechen. Dieser muss logischerweise eine ganz wichtige Rolle im konföderalen Staatenbund, in seinem „Keynes-Polanyi-Staat“ spielen. Ihm kommt die Aufgabe eines pazifizierenden Regulativs zwischen den souveränen Nationalstaaten zu. Der Rezensent vermutet hier eine fruchtbare geistige Nähe zu Heiner Flassbeck. Dieser macht schon seit Jahrzehnten unermüdlich deutlich, wie wichtig eine kluge Wechselkurspolitik für die friedliche Koexistenz und das gedeihliche Miteinander von – nun mal – unterschiedlich starken Volkswirtschaften ist. Streeck wird konkret und schlägt eine „Renovierung des Europäischen Wechselkursmechanismus II“ vor. Nur Dänemark befindet sich noch darin. Es handelt sich um ein Wechselkurssystem, das eine Variation innerhalb einer Bandbreite von ± 15 Prozent um den Leitkurs der Dänischen Krone zulässt.
Dieser (renovierte) Wechselkursmechanismus hätte nach Meinung des Rezensenten den Vorteil, dass er sich zwischen den beiden Extremen „feste Wechselkurse“ und „flexible Wechselkurse bewegt“. Vereinfacht kann man sich Wechselkurse als einen Ausgleichsmechanismus zwischen starken und schwachen Volkswirtschaften vorstellen. Warum es solche gibt, kann tausend Gründe haben. Man tut gut daran, das zu konstatieren. Um den Ausgleich herzustellen gibt es einen eher mühevollen und einen eher bequemen Weg. Der mühevollere Weg verlangt eine „interne Anpassung“, der (zunächst einmal) bequemere nimmt eine „externe Verschuldung“ in Kauf. Eine interne Anpassung bemüht sich darum, innerhalb der eigenen Wirtschaft zur Verbesserung der Produktivität notwendige Korrekturen im Hinblick auf Preise und Löhne vorzunehmen. Die externe Anpassung vertraut auf das geldpolitische Instrument variierender Geldmengenangebote. Zwischen diesen beiden Polen einen mittleren Weg einzuschlagen ist sicherlich realökonomisch und geldpolitisch „vernünftig“.
Aus dem Vorschlag Streecks lässt sich ableiten, dass Geldströme zwischen den souveränen Nationalstaaten eine geringere Bedeutung haben werden. Und damit auch Zentralbanken. Er präferiert „eine möglichst weitgehende Internalisierung von Wirtschafts- und Handlungszusammenhängen, auch auf Kosten rechnerischer Wirtschaftlichkeit, sofern diese Kosten durch höher bewertete nichtmaterielle Gewinne [sic!] aufgewogen werden.“ Das Einbringen „nichtmonetärer Werte“ in das Wirtschaftsgeschehen, das liest sich gut. Das macht Hoffnung. Das verleitet sogar zum Träumen, z.B. die Gläubiger – Schuldner – Beziehung zu überdenken. Innerhalb der Nationalstaaten und folgerichtig dann auch zwischen den Nationalstaaten. Es wäre sehr spannend, wenn Streeck sich vielleicht darüber in einer weiteren Publikation Gedanken machen würde.