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Inflationien

Eine Geschichte von Eberhard Gamm, vorgetragen bei der Monetative Jahrestagung 2017

Verehrte Gäste, als Bürgermeister der Stadt Inflationien heiße ich sie herzlich willkommen. Wie sie wissen, haben wir vor kurzem den Nachhaltigkeitspreis erhalten. Deshalb möchte ich sie im Folgenden mit der Geschichte unserer Stadt vertraut machen.

Da unser Stadtarchiv inzwischen mehrfach abgebrannt ist, ist über die ältere Geschichte nur wenig bekannt. Ich beschränke mich deshalb auf eine Episode, die bis heute mündlich überliefert wird. Nach der Einführung des Geldes kam es zu Streitigkeiten, weil einige Bürger immer mehr Geld und andere Bürger immer weniger Geld hatten. Der Pfarrer fragte daraufhin bei seinem obersten Vorgesetzten nach, was in einem solchen Fall zu tun wäre. Der Vorgesetzte verwies auf die von ihm autorisierte Schrift Bibel, die Anweisungen für diesen Fall enthalte. Der Pfarrer konnte die entsprechende Stelle finden und berichtete in der nächsten Stadtversammlung, dass die Bürger mit viel Geld als Reiche und die Bürger mit wenig Geld als Arme zu bezeichnen wären und dass der Vorschlag seines Vorgesetzten darauf hinaus lief, dass die Reichen den Armen etwas von ihrem Geld abgeben sollten. Dieser Vorschlag stieß bei den Reichen zunächst auf wenig Gegenliebe. Nachdem der Pfarrer kurz auf das Fegefeuer eingegangen war, lenkten sie aber ein. Der Pfarrer musste allerdings auch berichten, dass die Bibel keine konkreten Ausführungsbestimmungen enthalte. Um zu einer quantitativen Festlegung zu kommen, wurden zwei einflussreiche ausländische Gelehrte in die Stadt eingeladen. Der Erste, ein gewisser Platon, vertrat die Meinung, der Reichste solle nicht mehr als viermal soviel Geld haben wie der Ärmste. Dem widersprach jedoch der Zweite, ein gewisser Aristoteles. Er hielt ein Verhältnis von 100 für angemessen. Beide Herren bezeichneten sich als Philosophen und bestanden auf der unbedingten Gültigkeit ihrer Aussagen. Daraufhin herrschte große Verwirrung. Nach mehrtägigen Verhandlungen in der Bürgerversammlung konnte man sich auf ein Verhältnis von 12 einigen. Der Finanzminister bestand allerdings darauf, das Verhältnis auf 4 mal Pi zu ändern, da er dies leichter mit der ihm vertrauten Pi-mal-Daumen- Methode berechnen könne. Dem wurde stattgegeben. Ergänzend wurde beschlossen, keine Philosophen mehr in die Stadt einzulassen. Die Berechnungsmethode des Finanzministers hat sich auch außerhalb unserer Stadt verbreitet und ist heute unter der Bezeichnung Höhere Mathematik bekannt. Ich kann ihnen dazu nur sagen, dass es funktioniert. Seit dieser Zeit wird das Verhältnis 4 mal Pi eingehalten.

In der jüngeren Geschichte ging ein Bürger unserer Stadt ins Ausland, um eine neuartige Wissenschaft zu studieren. Als er wieder zurückkam, nannte er sich Ökonom und war sehr stolz darauf. Er hatte zahlreiche Schriften der Herren Smith, Fisher, Keynes, Friedman, Binswanger und Ackermann ausgewertet und war zu dem Schluss gekommen, dass wir unseren Wohlstand ganz einfach vermehren könnten. Er schlug ein jährliches Wachstum von 100 Prozent vor, das wir dadurch erreichen könnten, dass wir uns einmal im Jahr zur Gemeinschaftsarbeit treffen und dabei neue Sachwerte im Umfang der bereits vorhandenen Sachwerte schaffen sollten. Der Finanzminister solle seinen Anteil dadurch erbringen, dass er neue Geldscheine im Umfang der bereits vorhandenen Geldscheine anfertige. Die neuen Geldscheine sollten nach Abschluss der Gemeinschaftsarbeit an die Bürger verteilt werden. Der Ökonom hatte berechnet, dass sich dadurch ein Zustand einstellen würde, den er als Preisstabilität bezeichnete. Der Vorschlag stieß auf allgemeine Zustimmung.

Als die erste Gemeinschaftsarbeit anstand, zeigten sich jedoch Probleme bei der Durchführung. Alle Bürger waren davon ausgegangen, dass sie sich um die Gemeinschaftsarbeit drücken könnten und dass dies nicht auffallen werde. Als sich nun aber alle Bürger – mit Ausnahme des Finanzministers – nicht am Gemeinschaftsplatz, sondern im Wirtshaus trafen, schien die Sache zum Scheitern verurteilt. Der Wirt konnte die Anwesenden allerdings überzeugen, nicht vorzeitig die Flinte ins Korn zu werfen. Schon bald herrschte im Wirtshaus beste Stimmung, die sich noch steigerte, als der Finanzminister kam und das neue Geld verteilte.

Die Stimmung schlug allerdings um, als der Ökonom eintraf und erfuhr, dass keine neuen Sachwerte geschaffen worden waren. Er erklärte, dass sich nun gemäß der Theorie eines Herrn Fisher die Preise verdoppeln würden. Er nannte diesen Effekt Inflation, und diese Inflation würde uns alle in den Abgrund reissen. Es herrschte große Bestürzung. Nach kurzem Nachdenken erklärte jedoch der Geheimrat, dass die verdoppelten Preise unproblematisch wären, da wir ja nun auch doppelt soviel Geld hätten. Alle lobten den Geheimrat für diese Klarstellung, nur der Ökonom beharrte verbissen darauf, dass die Inflation gefährlich sei. Er regte sich so sehr auf, dass er an einem Herzinfarkt verstarb.

Der Vorfall wurde von einer Kommission untersucht. Aus dem 5000-seitigen Untersuchungsbericht ging hervor, dass die Inflation tatsächlich gefährlich sei, allerdings nur, wenn man sich darüber aufrege. Daraufhin schlug der Jurist vor, das Aufregen über die Inflation gesetzlich zu verbieten, um weitere Todesfälle zu vermeiden. Die Ärztekammer schloss sich diesem Vorschlag an. Der Geheimrat widersprach. Der Ökonom sei ja nun leider schon tot, und darüber hinaus habe sich ja niemand aufgeregt. Er bezeichnete die Erlassung eines entsprechenden Gesetzes als Regulierungswut und verwies auf eine ihm bekannte Stadt, in der diese Regulierungswut zum Verdruss eines ganzen Staatenbundes betrieben werde. Der Wirt hatte das auch schon gehört und wollte wissen, ob es sich um die Stadt Brüssel handele. Der Geheimrat verwies auf seine Schweigepflicht.

Seither wurde nun jedes Jahr die Gemeinschaftsarbeit angesetzt und die Geldmenge verdoppelt. Im dritten Jahr kam es zu einem ernsten Zwischenfall. Der Bäcker hatte vom Schmied im vorausgegangenen Jahr Geld ausgeliehen und nun zurückgezahlt. Der Schmied musste nun allerdings feststellen, dass er für dieses Geld vor einem Jahr 10 Brote hätte kaufen können, nun aber nur noch 5. Das war allen ein Rätsel. Den Ökonomen konnte man nicht mehr fragen, da er tot war. Der Geheimrat nahm sich der Sache an. Er setzte sich mit dem Finanzminister zusammen, und gemeinsam fanden sie heraus, dass auch die Schulden jedes Jahr verdoppelt werden müssten. Das wurde dann auch beschlossen. Nach einiger Zeit meldete sich der Finanzminister aber erneut zu diesem Thema. Er erklärte, dass die Verhältnisse anders wären, wenn wir bei der Gemeinschaftsarbeit tatsächlich neue Sachwerte schaffen würden. Außer dem Geheimrat und dem Mathematiklehrer hat jedoch niemand diesen Einwand verstanden. Der Wirt meinte, die Annahme, dass wir bei der Gemeinschaftsarbeit neue Sachwerte schaffen würden, könne als weltfremde Theorie verworfen werden. Dem stimmten alle zu. Der Jurist wies allerdings darauf hin, dass es sich bei der Sache um eine Frage des Eigentumsrechts handle und dass Eigentumsfragen sehr sensibel seien. Der Ruf nach Rechtssicherheit wurde laut. Der Jurist schlug vor, die Schaffung von Sachwerten im Rahmen der Gemeinschaftsarbeit zu verbieten. Dieser Vorschlag wurde mit Begeisterung aufgenommen. Das Gesetz wurde mit umfangreichen Feierlichkeiten verabschiedet.

Nach 10 Jahren traten erneut Probleme auf. Die Preise hatten sich inzwischen vertausendfacht. Dies führte zu Protesten bei den Einzelhändlern, die die gestiegenen Kosten für die größeren Preisschilder beklagten. Es wurde gemunkelt, dass die Inflation doch in den Abgrund führe, wie es der Ökonom vorhergesagt hatte. Es kam zu heftigen Diskussionen im Wirtshaus. Da mischte sich ein Durchreisender, der am Nachbartisch saß, in die Diskussion ein. Er sagte, sein Name sei Schacht, und er würde uns empfehlen, von allen Geldbeträgen einfach drei Nullen wegzustreichen. Das führte zu lautem Gelächter. Herr Schacht bestand jedoch auf der Wirksamkeit der Maßnahme und erklärte, er habe in dem Land, aus dem er komme und in dem er Präsident der Zentralbank sei, vor kurzem sogar 12 Nullen weggestrichen. Wir lachten ihn aus. Was für ein Aufschneider ! Inzwischen war auch der Geheimrat eingetroffen. Er hatte von der Sache mit den 12 Nullen gehört. Schlagartig änderte sich die Stimmung. Der Finanzminister wurde gerufen. Auch er hatte von der Sache gehört. Nachdem auch der Mathematiklehrer die Sache für machbar hielt, schritten wir zur Tat. Und was soll ich sagen: es hat funktioniert! Seither führen wir diese Maßnahme alle 10 Jahre durch. Ein voller Erfolg. Die Zukunft Inflationiens war gesichert. Auf Anregung des Finanzministers wurde am Finanzministerium eine Gedenktafel angebracht: “Wer hat die Lösung uns gebracht ? Es war der kluge Meister Schacht.”

Mit Freude – und auch einer Prise Stolz – nehmen wir zu Kenntnis, dass unser System nun auch mit dem Nachhaltigkeitspreis ausgezeichnet wurde. Ich danke für ihre Aufmerksamkeit.

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